Lissabon (dpa)

Harte Drogen in Europa: Dealer passen sich Corona an

Emilio Rappold, dpa
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Von Emilio Rappold, dpa
| 22.09.2020 13:07 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
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Soziale Netzwerke statt Straßendeal: Die Drogenmafia passt sich der Corona-Krise an und wird verstärkt im Netz aktiv. Die Pandemie bremst sie nicht. Experten warnen, dass der stärker werdende Rauschgiftmarkt zur immer größeren Bedrohung für die Europäer wird.

Der Vormarsch harter Drogen wie Heroin und Kokain gefährdet in Zusammenspiel mit der Pandemie die Gesundheit und auch die Sicherheit der Europäer.

Zu diesem Schluss ist die Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht der Europäischen Union (EMCDDA) in ihrem am Dienstag veröffentlichten Jahresbericht gekommen. Die gesundheitliche Versorgung und die Strafverfolgungsmaßnahmen seien durch Corona beeinträchtigt worden, stellt die EU-Behörde mit Sitz in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon fest.

Man müsse unter anderem befürchten, dass „einige der betroffenen Gruppen im Zuge der wirtschaftlichen Folgen der Krise anfälliger für Drogen und eine Involvierung in den Drogenmarkt werden“, sagte EMCDDA-Direktor Alexis Goosdeel bei der Vorstellung des Berichts. Das werde „unsere bereits ausgelasteten Einrichtungen noch stärker unter Druck setzen“. Man müsse deshalb „rasch handeln, um neue Bedrohungen zu erkennen und zu bewältigen“, forderte der Belgier.

Immer häufiger werden in Europa dem Bericht zufolge große Lieferungen abgefangen, was auf eine Zunahme des Handelsvolumens schließen lässt. Nach Angaben der EMCDDA erreichte die in den Ländern der Union sichergestellte Menge an Kokain zuletzt mit 181 Tonnen im Jahr 2018 einen Rekordwert, nach 138 Tonnen im Jahr 2017 und jeweils deutlich weniger als 100 Tonnen in den Jahren zwischen 2008 und 2016. Die größten Mengen wurden demnach in Belgien, Spanien und in den Niederlanden beschlagnahmt.

Bei Heroin sei derweil ein Anstieg der beschlagnahmten Menge von 5,2 (2017) auf 9,7 Tonnen (2018) registriert worden. Von einer verheerenden Opioid-Krise, wie sie die USA seit einigen Jahren mit zuletzt mehr als 36 000 Todesopfern (2019) erschüttert, ist Europa zwar weit entfernt. 2018 gab es in der EU insgesamt „nur“ 8300 Todesfälle in Zusammenhang mit Drogenmissbrauch, davon 1276 in Deutschland, das Platz zwei hinter Großbritannien (fast 3300) belegt. Tendenz stabil. Aber die Experten von der EMCDDA warnen, dass das „Potenzial für einen vermehrten Heroinkonsum und die bereits bestehenden Schäden Grund zur Sorge“ geben. Zumal es weiter Berichte über die Herstellung von Heroin innerhalb Europas gebe.

Aber nicht nur Heroin und Kokain bereiten Sorgen. Die Liste der „Schurken“ ist lang. Beunruhigung lösen unter anderem ein „hochpotenter Cannabis“, neue psychoaktive Substanzen, deren Zahl sich 2019 auf 53 belief, sowie das Auftauchen von acht neuen synthetischen Opioiden allein im vergangenen Jahr aus. Die Drogenherstellung in Europa habe zugenommen und sei vielfältiger geworden, heißt es. Die zunehmende Komplexität des Drogenmarktes berge regulatorische Herausforderungen und gesundheitliche Risiken.

Zahlen für das laufende Jahr liegen noch nicht vor. Die EMCDDA hat aber festgestellt, dass die pandemiebedingten Beschränkungen die Narcos - wenn überhaupt - nur kurz „gebremst“ haben. Die organisierten kriminellen Gruppen hätten ihr Vorgehen schnell den neuen Bedingungen angepasst, hieß es, und den Straßenverkauf zum Teil durch Onlinemärkte im sogenannten Darknet, durch verstärkte Aktivität in den sozialen Netzwerken sowie durch Paket- und Heimlieferdienste ersetzt. Die vermehrte Sicherstellung großer Mengen von Drogen, die auf dem Seeweg transportiert würden, lasse befürchten, dass die Drogenmafia inzwischen die Lieferketten, Schifffahrtswege und große Häfen „infiltriert“ habe, heißt es.

Dass die Drogenmafia nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Sicherheit der Europäer bedroht, unterstrich EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Davon kann man in der südspanischen Region Andalusien - einem der wichtigsten Kokainumschlagplätze Südeuropas - ein Lied singen. Dort sah man in den vergangenen Wochen bis dato nie dagewesene Gewaltszenen: Allein zwischen Ende August und Anfang September rammten Drogenhändler mit ihren Fahrzeugen mindestens drei Wagen der Polizei, brachten diese zum Teil zum Kippen. Es gab zudem mehrere wilde Schießereien und andere Attacken auf Beamte. Die Zeitung „La Vanguardia“ sprach von einer „mehrtägigen Furie“.

Ein Polizeichef der besonders betroffenen Provinz Cádiz wurde von Medien zitiert: „Die (Schmuggler) versuchen mit allen Mitteln und wo immer es nur geht, die Droge reinzubringen.“ Das Problem hat inzwischen auch Netflix erreicht. Beim Streaminganbieter läuft seit einigen Tagen ein Dokumentarfilm über die berüchtigte Cádiz-Gemeinde La Línea. „Das ist noch nicht Cali, noch nicht Medellin, aber es könnte dazu noch werden“, heißt es in „La Línea, Shadow of Narco“ zum Ort, in dem der berüchtigte Familien-Clan der „Los Castañas“ das Sagen hat - und wo viele der 62 000 vorwiegend einkommenschwachen Einwohner ihre Heimat „Klein Kolumbien“ nennen.

© dpa-infocom, dpa:200922-99-662007/3

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