Wolfsburg (dpa)

Der VW-Chef und die Vertrauensfrage

Jan Petermann, dpa
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Von Jan Petermann, dpa
| 30.11.2020 09:55 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
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Kriegt Herbert Diess noch die Kurve? Was der Vorstandsvorsitzende von Volkswagen und seine Kontrolleure genau voneinander erwarten, scheint unklarer denn je. Wieder machen Gerüchte über einen baldigen Showdown die Runde. Dabei treiben die Belegschaft ganz andere Sorgen um.

Manchmal sind es das Schweigen oder die Botschaften zwischen den Zeilen, die auf einen möglichen Bruch hindeuten. Oder, wie bei Herbert Diess, zumindest auf eine fortlaufende Entfremdung.

Der VW-Konzernchef sitzt - offiziell - weiterhin fest im Sattel. Doch vor dem Jahresende gibt es Signale, dass der im Sommer gerade noch so entschärfte Eklat mit dem Aufsichtsrat Nachwirkungen haben könnte. Auch der Machtkampf mit hohen Betriebsräten um das Tempo des Umbruchs in Richtung E-Mobilität und Digitalisierung scheint neu entflammt. Zuvor hatten sich beide Seiten in letzter Minute zusammengerauft - Diess soll dem Rausschmiss im Juni nur knapp entgangen sein, nachdem er Teilen des Gremiums ein strafbares Verhalten vorgeworfen hatte.

Gut ein halbes Jahr später kursieren frische Spekulationen über die Motivlage des gern forsch auftretenden Top-Managers. Er soll abermals um eine vorzeitige Verlängerung seines Vertrags gebeten haben, der bis zum Frühjahr 2023 läuft. Obwohl man darüber auch beim weltgrößten Autokonzern in der Regel frühestens zwölf Monate vorher spricht. Dem Vernehmen nach hatte Diess schon einmal eine Initiative gestartet, was nicht nur bei einigen Vertretern der Kapitalseite Stirnrunzeln hervorrief. Die bei VW besonders mächtige IG Metall sprach ihm im Mai gar in einem offenen Brief wegen des hohen Stresses in der Produktion und der Art der Kommunikation über weite Strecken das Misstrauen aus.

Will Diess jetzt den Spieß umdrehen, ein Bekenntnis zu seinem Kurs erzwingen? Sucht er Bestätigung durch eine Vorfestlegung der höchsten Entscheider? Aus Konzernkreisen ist mitunter zu hören, der 62-Jährige könnte seine VW-Zukunft von dieser Vertrauensfrage abhängig machen.

An diesem Dienstag will sich das Präsidium des Aufsichtsrats treffen. Die Sitzung habe vorbereitenden Charakter, heißt es. Der engste Zirkel der Kontrolleure spreche die Themen für die nächste größere Runde durch. Nach bisheriger Planung soll es nicht um Vertragsfragen gehen. Es sei denn, der Vorstandschef macht sich selbst zum Thema.

Die zuständigen Unternehmenssprecher wollten zuletzt keine Stellung nehmen. Aber auch sonst mutet die Stille bisweilen vielsagend an. Bei manchem Insider ist hinter vorgehaltener Hand wachsender Unmut herauszuhören. Eigentlich habe VW, habe die Wirtschaft zurzeit andere Probleme, als sich mit dem Vertragspoker ehrgeiziger Manager und atmosphärischen Dauerdifferenzen zu befassen. Während die Belegschaft in Corona-Zeiten alle Mühe habe, den Laden am Laufen zu halten.

Nach außen demonstriert man Rückendeckung, doch die Geduld dürfte nicht unendlich sein. „Die Eigentümer stehen weiter hinter Herrn Diess“, lautete die bekannte Formel, als jüngst dessen angebliche Vorstellungen zur Nachbesetzung von Vorstandsressorts durchsickerten. Es sei jedoch noch nicht so weit, hier Pflöcke einschlagen zu müssen, stellten Aktionärsvertreter klar. Gleiches gelte für eine frühzeitige Verlängerung mit Diess: „Die Frage stellt sich derzeit nicht.“

Es ist kein Geheimnis, dass der Vorstandschef seit der Vorhaltung von „Straftaten“ und „Zeichen fehlender Integrität“ an die Adresse einiger Aufseher unter einer Art Bewährung steht. Im Präsidium sitzen neben Chefkontrolleur Hans Dieter Pötsch Vertreter der Familien Porsche und Piëch, Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), IG-Metall-Chef Jörg Hofmann und leitende Betriebsräte.

Große Investoren beobachten ebenfalls genau, ob die Nagelprobe gelingt, die ID-Familie und weitere Elektrofahrzeuge mit komplexer Software nach Anlaufproblemen in ausreichender Zahl an die Kunden zu bringen. Aber das Verkaufen von Autos ist nicht alles: An einem guten Verhältnis zur IG Metall und zum zweitgrößten Anteilseigner Niedersachsen führte für alle bisherigen VW-Chefs kein Weg vorbei.

Zum Festakt zu 75 Jahren Mitbestimmung im Konzern kam vorige Woche auch Altkanzler Gerhard Schröder - der Vorstand, bis auf Personalchef Gunnar Kilian, fehlte. Schröder, von 1990 bis 1998 Ministerpräsident, betonte in seiner Rede: „Die enormen Produktivitätsfortschritte, die deutsche Unternehmen und die Wirtschaft gemacht haben, waren und sind nur durch das vertrauensvolle Zusammenwirken von Betriebsräten auf der einen und Unternehmensleitungen auf der anderen Seite möglich.“

Diess schickte ein Grußwort. Darin der Satz: „Effizienzsteigerungen sind notwendig und für den Fortbestand von Unternehmen nicht zu unterschätzen. Hier haben wir bei Volkswagen noch Nachholbedarf.“ Er wünsche „den Vertretern der Mitbestimmung eine glückliche Hand“.

Betriebsratschef Bernd Osterloh - Mitglied im Aufsichtsratspräsidium - meinte: „Bei uns geht es immer um nachhaltige Konzepte gleichermaßen für Beschäftigungssicherung und Wirtschaftlichkeit.“ Er und Diess waren im Frühjahr erneut aneinandergeraten, als Beschäftigte über immer mehr Druck an den Linien klagten. Seither wird Harmonie beteuert - hinter den Kulissen will man sich aber noch nicht klar zur Vertragsfrage positionieren. Ministerpräsident Weil sagte, er lege „größten Wert darauf“, mit den Betriebsräten auch während des Wandels zu neuen Antrieben und IT-Anforderungen eng zusammenzuarbeiten.

Fühlt sich Diess von den Arbeitnehmer- und Landesinteressen im „System Wolfsburg“ blockiert? „Bei meinem Amtsantritt hatte ich mir fest vorgenommen, das System VW zu verändern“, schrieb er kürzlich in einem Gastbeitrag für das „Handelsblatt“. „Heißt: alte, verkrustete Strukturen aufzubrechen und das Unternehmen agiler und moderner aufzustellen.“ Er sei fest überzeugt, „dass uns die Transformation gelingen wird. Trotz der starken Unternehmenskultur von Volkswagen.“

Nicht wegen, sondern trotz. Selbst im Porsche/Piëch-Clan, der 53 Prozent der VW-Stammaktien hält, gibt es Stimmen, die meinen, Diess müsse mittlerweile wissen, dass Innovationen und die speziellen Usancen der Mitbestimmung im Konzern immer zusammengehören. Dabei habe er doch aus dem Ordnungsruf im Sommer seine Lehren gezogen.

Freilich wird Diess' Mut und Tempo von vielen sehr geschätzt. Er baut Volkswagen so stark um wie niemand vor ihm. Sein Anspruch, auch im Konkurrenzkampf mit Tesla Marktführer für günstigere E-Autos zu werden, die enormen Investitionen in Elektro- und Hybridantriebe, Software-Entwicklung und Vernetzung - all das bringt ihm in weiten Teilen von Industrie, Politik und darüber hinaus großen Respekt ein.

Branchenexperten glauben, dass der Weg riskant, aber richtig ist. „Es kommt darauf an, Sicht- und Wahrnehmbarkeit von Elektrofahrzeugen auf den Straßen zu erzeugen“, sagt der Automobil-Ökonom Stefan Reindl. Da passten nicht zuletzt Pläne für einen kleineren Ableger der ID-Reihe gut ins Bild. Und möglicherweise schärft Volkswagen seine eigenen, schon weit gediehenen Klimaschutzziele noch einmal nach.

Finanzinvestoren forderten ein Machtwort der Eigentümer, um die Position von Diess zu stärken. In welche Richtung sich die Lage auch entwickelt: Die Unruhe bei VW dürfte so schnell nicht vorübergehen.

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